„Fakten“ sind nicht gleich FAKTEN!

Im Rollenspiel sind die Spieler damit beschäftigt Fakten in der Spielwelt zu schaffen. Was in einer Spielsitzung an Fakten IM SPIEL geschaffen wird, ist in der nächsten Spielsitzung in derselben Spielwelt, in derselben Kampagne weiterhin ein Fakt.  Das ist der Kern des Fortsetzungsspiels im Gegensatz zu reinen One-Shots von nur einer einzigen Spielsitzung. Da Fakten somit in der Rollenspielpraxis eine große Bedeutung zukommt, möchte ich hier mal auf Probleme mit Fakten und dem Faktenschaffen eingehen und meine Sicht auf unterschiedlichen „Arten“ von Fakten vorstellen.

Meine Motivation: In des Hofrats Disputorium schrieb Athair etwas für diesen Artikel Auslösendes (der Bezug des Disputoriums-Threads ist durchaus auch interessant, da die dortige Diskussion um Fakten-UNTREUE, Spieler-BESCHISS und MANGELNDE SPIELMORAL geht – er findet sich hier).

Athair schrieb unter Verweis auf den DSA-Hintergrund:

Der Hintergrund ist teilweise dermaßen einengend, dass ich als Spieler meine Schwierigkeiten habe mir in Bezug auf diesen Handlungsspielraum zu erkämpfen. … Also: Es gibt durchaus ein Problem mit Fakten im Spiel.

Das Problem daran ist ja, daß es nicht nur Fakten als solche gibt, sondern daß man zwischen „Fakten“ und FAKTEN unterscheiden muß.

Durch die Unterscheidung wird meines Erachtens klar, warum manchmal Hintergrundinformationen (Fakten über die Spielwelt) als einengend empfunden werden, warum man manchmal das Gefühl hat GEGEN den Hintergrund und seine vorab vorhandene „Faktendichte“ anspielen zu müssen und wo das Problem (und dessen Vermeidung) mit Fakten im Rollenspiel liegt.

Fakten zum Ersten: Fakten

Fakten – Das ist der Begriff in „Normalnutzung“. Damit verbinde ich keine besondere Bedeutung in Bezug auf das Rollenspiel, sondern verwende es synonym zu Tatsachen, Eigenschaften, usw.

Spricht man von Fakten, die im Spiel geschaffen werden, oder von Fakten, die man aus einem Quellenband herausliest, oder von Fakten, die der Spielleiter bei seiner Abenteuervorbereitung festlegt, dann meint man unterschiedliche ARTEN von Fakten. Und um die Unterschiede zwischen diesen geht es mir zunächst einmal.

Fakten zum Zweiten: FAKTEN

FAKTEN – In dieser Schreibweise meine ich damit alles, was irgendwann einmal IM SPIELGESCHEHEN genau DIESER Spielgruppe als Eigenschaft, als Tatsache, als Fakt der Spielwelt vorgekommen ist.

Diese FAKTEN sind sowohl dem Spielleiter wie auch den Spielern bekannt. Sie sind die OFFENBAREN Tatsachen, die durch Spielerentscheidungen, SC-Einwirkung auf die Spielwelt, und durch die Präsentation der Spielwelt durch den Spielleiter UND die Spieler(!) gefestigt wurden.

FAKTEN haben im Spiel bereits WIRKUNG entfaltet – auch wenn die Wirkung nicht immer gleichermaßen weitreichend sein muß.

Beispiel:

Ich spiele als Spieler einen Krieger eines Reitervolkes. Es wurde nirgendwo in einem mir bekannten Kulturbeschreibungstext oder sonst irgendwo im Spiel bisher eine Aussage zu Barttracht und Körperschmuck gemacht. Ich entscheide somit, daß mein Charakter einen langen Schnurrbart in der typischen Art der Reitervölker trägt und sein Oberkörper mit Tätowierungen, wie man sie in seiner Heimat bei den Kriegern findet, geschmückt ist.

Das sind NEUE FAKTEN. Es sind FAKTEN, weil sie IM SPIEL – sogar beim ersten Auftritt des Charakters gegenüber den anderen SCs – so beschrieben wurden.

Nun ERWARTE ich – zurecht! – daß der Spielleiter bei der Beschreibung von etwaigen weiteren Angehörigen dieses Reitervolkes meine geschaffenen FAKTEN aufgreift. Daher haben ALLE Krieger dieses Volkes solche Tätowierungen und zumindest die meisten Bartträger werden die oben beschriebene Barttracht haben.

Als Spieler habe ich hier die Weltbeschreibung mit MEHR DETAILS versehen. Und zwar nicht mit Details ohne weitere Bedeutung für das gemeinsame Spiel, sondern mit der berechtigten ERWARTUNG, daß diese von mir in einem sogar für die meisten Spielvorkommnisse minderwichtigen Bereich geschaffenen FAKTEN eben nunmehr für UNSERE GRUPPE Tatsachen der Spielwelt darstellen.

Jeder Spieler schreibt die Weltbeschreibung fort (inklusive der Historie der Welt, die durch das Voranschreiten der Zeit in der Spielwelt festgeschrieben wird).

Jeder Spieler erschafft somit FAKTEN in und über die Spielwelt.

Auch der Spielleiter erschafft solche FAKTEN.

Beispiel:

Wenn der obige Krieger ein NSC wäre, dem wir als erstem Vertreter der Reitervölker begegnet wären, und der Spielleiter hätte ihn so beschrieben, dann wäre unsere ERWARTUNG bezüglich des Aussehens weiterer Vertreter geprägt. Abweichungen kann es geben, doch sind diese zu begründen, zu erklären, nachvollziehbar, plausibel zu halten.

Der Spielleiter, der in seiner eigenen, persönlichen Ergänzung dessen, was er an Material über die Spielwelt in eine Spielsitzung genommen hat, solche FAKTEN schafft, ist MORALISCH GEBUNDEN diese auch in weiteren Spielsitzungen zu honorieren und sie weiterhin als gültige Tatsachen zu behandeln (siehe auch den oben verlinkten Thread im Tanelorn). Ändert sich etwas an diesen Tatsachen, dann braucht es einen plausiblen GRUND dafür! Ursache und Wirkung. Damit schafft man echte FAKTEN, die ja die WIRKUNGEN dokumentieren. Ansonsten wird die Welt unglaubwürdig.

Also schaffen ALLE Spielenden FAKTEN in und über die Spielwelt an den Stellen, die in den vorab den Spielenden zugänglichen UND PRÄSENTEN Informationen nicht abgedeckt waren.

Das ist ein HINZUFÜGEN zur Spielweltbeschreibungsdichte. Die Spielweltbeschreibung wächst um die geschaffenen FAKTEN. Diese FAKTEN haben somit eine WIRKUNG entfaltet, die sich in der Fortschreibung der Spielweltbeschreibung niederschlägt.

Und die Gültigkeit dieser Hinzufügungen erstreckt sich nur auf genau diese eine Spielgruppe – oder im klassischen Kampagnenverständnis eines traditionellen Spielleiters auf seine Kampagne (= Spielwelt, die er konsistent mit vielen verschiedenen Gruppen bespielt).

Fakten zum Dritten: „Fakten“

„Fakten“ –  Das sind im Spiel bislang „noch unwirksame“ Fakten.

Alle Fakten, die in Quellenbänden vorkommen mögen, alle Fakten, die ein SL sich selbst – ob mit oder ohne Zufallstabellen etc. – über die Spielwelt zusammengestellt hat, alle Fakten, die den GESAMTSTAND der unabhängig von einer konkreten Spielgruppe existierenden Faktenlage über eine Spielwelt darstellen.

Solche „Fakten“ kamen bislang im aktiven Spiel in einer Spielsitzung noch nie zum Tragen. Als im Spiel bislang „noch unwirksam“ kann man sie bezeichnen, weil sie in KEINER Weise einen Einfluß auf die Spielsitzungen einer Spielgruppe hatten. – Also weder als Motivation für einen NSC, noch als ein Gerücht auf der Straße, noch sonst irgendwo aufgetaucht sind. Sie hatten einfach NOCH KEINE WIRKUNG auf das laufende bzw. gelaufene Spiel!

Ändert sich ein „Fakt“, dann MERKT ES NIEMAND, weil dieser Fakt noch keinerlei WIRKUNG entfaltet hat.

Beispiel:

Die SCs spielen in einer zivilisierten, renaissancezeitlich angehauchten Region der Spielwelt, in der es nicht einmal Gerüchte über die obigen Reitervölker auf einem anderen Kontinent gibt, der mangels tauglicher Schiffe noch nicht einmal entdeckt ist. Erscheint nun ein Quellenband zu besagtem Kontinent, in welchem die Reitervölker völlig anders beschreiben werden – 2,50m große blaue negroide Nomaden, die auf riesigen Elefanten als Reittieren umherziehen – dann MERKT das KEINER in der Spielgruppe der SCs, weil diese „Fakten“ zu keinem Zeitpunkt eine Wirkung in der erspielten, fortgeschriebenen Historie dieser Kampagne hatten.

Anders sähe es aus, wenn die SCs schon mit marodierenden Horden dieser Reitervölker zu tun hatten, diese – mangels weitergehender Information des SLs – wie oben im ersten Beispiel beschreiben wurden, und nun aber mit vom Spielleiter in die Spielgruppe eingebrachten, neuen „kanonischen“, offiziellen Informationen „überschrieben“ werden sollen.

Ein „die waren schon immer 2,50m groß und blau“ ist nicht gerade glaubwürdig.

Hier ist der MORALISCHE MAKEL das Klammern des Spielleiters an irgendwelche GRUPPENEXTERNEN AUTORITÄTEN (im Beispiel: Verlage), die er in die Inhalte seiner eigenen Kampagne (= Spielwelt) hineinzudirigieren zuläßt.

Externe Autoritäten – Fakten von außen akzeptieren

Wer eine Spielgruppe initiiert, seine Spielweltinterpretation für diese Gruppe  beginnt, über den hat NIEMALS irgendein Verlag und dessen Produktpalette auch nur den Hauch an Autorität, was er wie in SEINER Interpretation der Spielwelt darbietet.

Noch so offizielle Informationen, noch so „kanonisch“ erklärte Spielwelt-Faktenbeschreibungen können niemals mehr als „Fakten“, also noch UNWIRKSAME Fakten sein.

Verlage nutzen jedoch ihre Produkte und die nur IHNEN Vorteile bringende KANONISCHE Weltbeschreibung aus, um nicht nur bei den Spielleitern, sondern gerade auch bei den SPIELERN die ERWARTUNG zu schüren, daß sie nicht mehr in der Welt des Spielleiters (dessen Kampagne) spielen sollten, sondern ALLE in DERSELBEN, d.h. in einer in wesentlichen Fakten überall und immer IDENTISCHEN Spielwelt!

Nochmal, weil es mir so wichtig ist das klar herauszustellen:

Es wird bei den SPIELERN die Erwartung geweckt, daß es erstrebenswert sei, wenn ALLE Spielenden eines bestimmten Rollenspiels (z.B. DSA) in DERSELBEN, der IDENTISCHEN Spielwelt spielten.

Das ist der krasse Gegensatz zu den klassischen Tugenden des Rollenspielhobbys, nach welchen die Spielwelt, die Kampagne, der PERSÖNLICHE Ausdruck und das persönliche EIGENTUM des Spielleiters ist. Dieser läßt seine Spieler (oft mehr als nur eine Spielgruppe!) in dieser, SEINER Welt agieren und sie ändern. Es ist dabei seine MORALISCHE VERPFLICHTUNG diese Änderungen auch als FAKTEN in seiner Spielwelt einzuarbeiten.

Dadurch ist eine Spielwelt bei Spielleiter Albert SPÜRBAR anders als bei Spielleiter Bertram oder bei Spielleiterin Claudia. – Es ist eine PERSÖNLICHE Herzenssache, KEIN überall identisches, kanonisches und damit auch SEELENLOSES Ungetüm!

Auch in Zeiten, als die klassischen Tugenden noch allgegenwärtig nachgeeifert wurde, gab es ja schon Rollenspielprodukte von Verlagen, die Regionenbeschreibungen, Spielwelten, usw. zum Gegenstand hatten.

Was war der Unterschied?

Der Unterschied liegt im UMGANG mit solchen Materialien und der ERWARTUNGSHALTUNG der SPIELER, wie ihr Spielleiter selbst bei Verwendung von „offiziellen Materialien“ mit diesen umzugehen hat (auch eine Tugend!).

Hält der SL es für angebracht und meint er dies ohne Kompromittierung der Plausibilität SEINER Kampagne bewerkstelligen zu können, dann kann er natürlich die Inhalte solche Quellenbände ganz oder zum Teil verwenden. Das ist unproblematisch, wenn es eben mit der notwendigen Achtsamkeit auf die KONSISTENZ seiner Spielweltdarstellung geschieht.

Noch unwirksame Fakten werden erst IM SPIEL von „Fakten“ zu richtigen FAKTEN, auf die sich die Spielgruppe auch verlassen kann.

Durch sorgsame Filterung, durch bewußte Zusammenstellung der FÜR SEINE Kampagne zulässigen Fakten-Materialien erhält er eine Sammlung an spezifisch ausgewählten „Fakten“. Er ist zu KEINEM Zeitpunkt irgendwie moralisch in der Pflicht ALLES, was in einem Quellenband steht, auch zu übernehmen. Er ist zu KEINEM Zeitpunkt verpflichtet irgendeiner kanonischen Entwicklung der „offiziellen“ Spielwelt (Meta-Plot) zu folgen. Das ist alles für seine EIGENE Kampagne völlig uninteressant!

Und die Spieler, denen solche Tugenden bewußt sind, erwarten es auch NIE anders vom Spielleiter. Sie erwarten eine EINMALIGE, eine INDIVIDUELLE Kampagne (= Spielwelt), die sie NUR BEI DIESEM EINEN Spielleiter so im Spiel erleben können!

Einzigartigkeit, Einmaligkeit, individuelle Unterscheidbarkeit. – Das zeichnet eine spielleiterindividuelle, tugendorientierte Kampagne aus.

Im Gegensatz dazu erhält man beim „konformistischen“ Verfolgen von  kanonischen, immer-gleichen „Fast Food“-Spielwelten, die mit einer ungerechten(!) Autorität VON AUSSEN in eine Spielgruppe hinein bestimmt werden, nicht einmal einen Hauch dessen, was im Rollenspielhobby das BESONDERE gegenüber Computerspielwelten oder passiveren Medien wie Film, Comic usw. ausmacht: Die INDIVIDUELLE, EINZIGARTIGE Spielumgebung.

Es wird Konformismus groß geschrieben. Es wird auf Normen gehört, die VON AUSSERHALB der Spielgruppe kommen – und allein schon deshalb eigentlich NICHTS in der Gruppe zu suchen haben!

Das ist in meinen Augen die Quelle des Übels, wenn jemand die Erfahrung macht, daß er als Spieler (oder als Spielleiter) durch eine „überspezifizierte“ offizielle, von außen aufgenötigte Spielwelt geradezu ERDRÜCKT wird.

Ohne die heutzutage gerade hier im deutschsprachigen Spielraum anzutreffende ERWARTUNGSHALTUNG der Spieler nach geradezu sklavischem Folgen der kanonischen Vorgaben der Verlage, gäbe es diese erstickenden Situationen, in denen man das Gefühl hat GEGEN die FAKTEN-DICHTE normierter, unindividueller, überspezifizierter Spielwelten anzuspielen.

Solche Spieler sind leider von UNTUGEND der rollenspielerischen SELBSTVERLEUGNUNG bestimmt.

Sie verleugnen ihre Identität als EIGENSTÄNDIGE Rollenspielgruppe mit INDIVIDUELLER Spielwelt. Das halte ich für eine Art Selbstverleugnung, weil eben die IDENTITÄTSSTIFTENDE Funktion einer individuellen Spielwelt/Kampagne durch das sklavische „Abarbeiten“ des Kanons nicht mehr gegeben ist.

Graue Ameisen. Sie spielen alle die exakt identische Spielwelt, die exakt identischen Kampagnen. – Oder zumindest VERSUCHEN sie das.

Aber solch ein Versuch MUSS SCHEITERN! – MUSS, weil eben keine Gruppe wie die andere ist. Wer solche Stangenware als kanonisch zu befolgende „Heilige Schrift“ in seiner Runde verwendet, der wird feststellen, daß sie KEINEM in der Gruppe wirklich paßt. Daher wird JEDER niedergeknüppelt, kleingehalten, eingezwängt, auf daß man ja dem (unwahrhaftigen!) Werte der „Kanon-Treue“ seine Spieler und deren Spielvergnügen, ja deren Spiel-LEIDENSCHAFT opfert!

Nach einiger Zeit kennen diese Spieler es nicht mehr anders! – Dann ist die FALSCHE Erwartungshaltung ZEMENTIERT. Die Spieler fügen sich in ihre Verstümmelungen und erleben das Rollenspielhobby verkümmert wie Bonsai-Bäumchen. Durch Qual und unnatürliche Methoden auf einen „beherrschbaren“ Rahmen gestutzte Kreaturen, deren eigentliches Lebensziel ist, sich in den HIMMEL emporzuschwingen und die ganze FREIHEIT des Rollenspielhobbys auszukosten!

Ich finde so etwas stets sehr bedauerlich.

Von „Fakten“ zu FAKTEN – Die Grundtugenden als Stütze

Wie geht man nun mit veröffentlichtem oder selbstersonnenem Material um, ohne seine Runde durch Untugenden ins Unglück zu stürzen?

Informationen oder auch nur Ideen (auch spontane!), die bislang noch KEINE WIRKUNG in der Spielgruppe, im Spielgeschehen hatten, sind „Fakten“. – Sobald ein Spielender, Spieler oder Spielleiter sie aber am Spieltisch, in der Gruppe in das Spielgeschehen einbringt und somit sowohl die „Fiktion“ weiterspinnt, als auch die „Dokumentation“ der Spielwelt fortschreibt, werden aus diesen „Fakten“ die belastbaren, wirkungsmächtigen FAKTEN.

Grundtugenden, die von allen Spielenden Beachtung finden, sind dabei die Plausibilität der Spielwelt, die Konsistenz der Spielweltdarstellung und die Konstanz des Standpunktes der Spielweltinterpretation.

Unter Beachtung dieser Grundtugenden ist auch das Erstellen NEUER EIGENER Spielweltfortschreibungen ZWISCHEN den Spielsitzungen (gemeinhin im Rahmen der Spielsitzungsvorbereitung) unproblematisch. Unter diesen Tugenden wird diese Fortschreibung erst einmal „Fakten“ schaffen, die dann im eigentlichen Spielgeschehen zu FAKTEN werden, ohne irgendwelche Reibungseffekte auszulösen.

Unter diesen Tugenden ist auch das Aufnehmen von von dritter Seite (Verlagen, Fanzines, usw.) publizierter Spielweltfortschreibungen unproblematisch. Das Deklarieren eines Quellenbandes als für die Spielgruppe bzw. die Kampagne als „gültig“ (ganz oder nur in Teilen, ohne oder mit Einschränkungen) gehört zu dem üblichen Verantwortungs- und Aufgabenbereich eines Spielleiters, der unter den obigen Tugenden seine Kampagne PFLEGEN möchte.

Und das EINZIGE, was zählt, ist SEINE Kampagne!

Ob ein Quellenband in eines ANDEREN Spielleiters Kampagne „funktionieren“ mag, ob eine im Internet aufgeschnappte Idee zur Spielwelt“bereicherung“ in der Kampagne des jeweiligen Beitragsschreibers „funktionieren“ mag, ist EGAL!

Es gibt KEINE Garantie, daß irgendeine Ergänzung der Spielwelt-„Fakten“ wirklich zu FAKTEN führen wird, die den obigen Tugenden gerecht werden können!

Einen Quellenband als „ab jetzt für die Gruppe verbindlich“ zu deklarieren, stellt ohne eine ernstliche PRÜFUNG unter den Gesichtspunkten obiger Tugenden IMMER ein Risiko dar die Spielwelt, die gesamte Kampagne zu zerrütten.

Unter Beachtung der Grundtugenden jedoch, wird bei JEDER neu erscheinenden Publikation, bei jeder neuen, aufgeschnappten oder selbst entwickelten, Idee GEPRÜFT, ob sie für die Kampagne tauglich ist.

Das sorgt dafür, daß all die „Fakten“, die für die Kampagne vorliegen, eine Sammlung an potentiell BEREICHERND wirksamen Fakten sind, die IM SPIEL zu den für ALLE Spielenden wahrnehmbaren und relevanten FAKTEN werden können.

Erteilt man der Untugend der „Kanon-Treue“ eine Absage und bietet man die Werte der Individualität, der Einzigartigkeit, der persönlichen Leidenschaft auf, dann erhält man eine Spielgruppe mit IDENTITÄT, ein eigenes Profil als Spielleiter, eine Kampagne, die einem als etwas BESONDERES, etwas EINZIGARTIGES in Erinnerung bleibt.

Man hat nicht als eine von hunderten, von tausenden Gruppen die stets identischen, vorgezeichneten Dinge getan, sondern man hat seinen EIGENEN AUSDRUCK im Spiel gefunden!

Das ist es, weshalb ich das Hobby Rollenspielen so lange schon so intensiv betreibe. Es ist ein sehr persönliches, individuelles, einzigartiges und zutiefst moralisch befriedigendes aktives Tun, das den Unterschied ausmacht, ob man sagt: „Ich spiele Rollenspiele“ oder ob man sagt: „Ich BIN Rollenspieler“.

Das Problem UNKONTROLLIERTER „Fakten“-Fülle und „Fakten“-Verfügbarkeit

Ich habe oben stets betont, daß die ERWARTUNGSHALTUNG den Kanon einzuhalten von den SPIELERN in die Gruppen getragen wird.

Das ist mein Eindruck.

Nicht der Spielleiter ist es, dem wirklich an Kanon-Treue gelegen ist, sondern es sind die „überinformierten“ Spieler!

Was meine ich mit „überinformiert“`?

Ein Blick zurück: Früher war es Ehrensache, daß ein Spielleiter in seinen Rollenspiel-Kampagnen EIGENE Welten entwickelt hat (oft mehr als eine). Wer in „gekauften“ Welten gespielt hat, der konnte zwar nach den Grundtugenden spielen, aber sein Ansehen war spürbar geringer als das des „vollindividuellen“ Spielleiters.

In einer Kampagne, die NUR der Spielleiter hinsichtlich der „Fakten“-Lage vollständig kannte, waren den Spielern nur die FAKTEN bekannt. Mehr nicht. Sie hatten auch keine Möglichkeit mehr Zugang zu Fakten zu bekommen außer IM SPIEL selbst! – Der Spielleiter entwickelte und pflegte seine Spielwelt und die Spieler spielten in dieser und änderten sie dadurch. Die AKTUELLSTEN Fakten waren somit stets das, was in der letzten Spielsitzung passiert ist. Aktueller als das ging es nicht!

Das wurde anders, als die Verlage ihre Produktstrategie änderten.

Anfangs wurden REGELWERKE und – für den Spielleiter – Monster, NSCs, Abenteuerschauplätze usw. produziert. – Regelwerke verkaufen sich nach wie vor am Besten. Fast jeder Spieler in einer Spielrunde hat die Grundregeln zur Verfügung. Manche noch mehr als das, aber mit den Grundregeln allein kann man als Spieler jahre- ja jahrzehntelang spielen.

Die Spielleiter kauften Material, Bausteine um ihre eigenen Spielwelten auszustatten und zu vertiefen. Und manchmal kauften sie auch andere Spielwelten „von der Stange“. Diese waren oft auch nur BAUKÄSTEN (Traveller gab nur einen Rahmen vor, aber im für das eigentliche Spiel relevanten Detailbereich MUSSTE der Spielleiter SELBST seine individuell unterschiedliche Spielwelt, sein Universum erschaffen!).

Erst nach und nach kamen stärker „ausdefinierte“ Spielwelten auf.

Mit dem Maße, wo Spielwelten „von der Stange“ aufkamen, ging auch das Selbstentwickeln individueller Spielwelten in vielen Spielrunden zurück. Manche Rollenspiele entdecken gerade wieder die Tugenden dieser alten Zeit (Diaspora, Stars without Number, usw.). Aber die meisten Rollenspielwelten heutzutage sind „Fertighäuser“. Schnell zu beziehen und schnell darin erste Abenteuer zu erleben.

Das wäre auch noch kein Problem, wenn nicht die Verlage auf die Idee gekommen wären, mittels ihrer Quellenbände GESCHICHTEN zu „erzählen“, statt einfach nur eine VORGESCHICHTE der Spielwelt bis zum ersten Spieltag zu präsentieren.

Die Geschichten, die in der Spielwelt angesiedelt waren und die weitere Entwicklung der Spielwelt waren viel näher beim ROMAN als beim SPIEL angesiedelt. – Dragonlance stellt für mich den Anfang dieser neuen Produktstrategie dar. Romane, sehr stark railroading-lastige „Abenteuer“ und eine Spielwelt, deren ZUKUNFT aus Sicht des aktuellen Zeitstandes der SC-Gruppe bereits FESTSTAND!

Metaplot. Diese Untugend für die SPIEL-Interessierten im Rollenspielhobby griff immer mehr um sich.

Da nun aber ALLE Produkte verfügbar waren (im Gegensatz zur nur von einem einzigen SL in seiner eigenen Wohnung ausgeheckten Spielwelt), konnten auch die SPIELER solche Produkte erwerben!

Das Campaign Setting, die Romane, die Roman-SERIEN, die Computerspiele.

All das liefert „Fakten“ über die betreffende Spielwelt!

Wer sich als Spieler Romane zur Spielwelt, in der seine Spielgruppe gerade spielt, anschafft, wer das Computerspiel spielt, wer die Comics liest, wer sich Quellenbände zur Herkunftsregion seines SCs, zu dessen Magierakademie, zu dessen Bekleidung usw. anschafft, der erwirbt „Fakten“-Sammlungen über die Spielwelt.

Diese „Fakten“ können dem Spielleiter und allen anderen Spielern auch bekannt sein, müssen aber nicht.

Das Problem liegt darin, daß hier der SPIELLEITER als die EINE und EINZIGE Instanz für die Anwendung der Grundtugenden beim Zusammenstellen dessen, was für SEINE Kampagne die ZULÄSSIGEN „Fakten“ sind, ÜBERGANGEN wird!

In den alten Zeiten der noch deutlich unterspezifizierten Spielweltprodukte hatte der Spielleiter meist als EINZIGER in seiner Gruppe diese Quellenbände angeschafft und entsprechend den Grundtugenden gefiltert und nur das, was VERTRÄGLICH und ZUTRÄGLICH für seine Kampagne war, davon zugelassen.

Jetzt, wo viele Spieler auch über exzellente Kenntnisse von „Fakten“ verfügen, kommt ein Problem auf, das es früher nicht gab.

Diese „Fakten“ sind ja noch OHNE WIRKUNG! Erst wenn sie IM SPIEL dieser einen Gruppe wirklich zu FAKTEN gemacht werden, erlangen sie Wirkungsmacht.

Nur, diese „Fakten“ können in der konkreten Ausgestaltung der Spielwelt des Spielleiters FALSCH sein! Sie sind nur dann wirklich WAHR, wenn sie zu FAKTEN gemacht wurden.

Die am LESEN fast mehr als am SPIELEN interessiert wirkenden Spieler lesen sich eine FÜLLE an „Fakten“ an, deren Verträglichkeit mit den Absichten und der Ausgestaltung der Spielwelt durch den Spielleiter nicht absehbar ist. Und diese „Fakten“ sind es, die ANTWORTEN, die GEWISSHEITEN denen geben, die sie durch Lesen (nicht durch Spielen) erworben haben. Aber sie waren bislang noch nicht relevant im Spiel!

Das führt dazu, daß sich eine Art „Druck“ anstaut, die erworbenen Detailkenntnisse (aber alles immer noch keine echten FAKTEN, sondern nur „Fakten“!) im Spiel BESTÄTIGT zu bekommen. Durch diese Bestätigung, daß es genau so ist, wie man es gelesen hat, wird der „Fakt“ zum FAKT.

Man erspielt sich nicht einen NEUEN Fakt durch eigene Ideen und spielerische Findigkeit, sondern man sorgt nur dafür, daß ein angelesener „Fakt“ aus einer von einer externen Autorität (dem Verlag) stammenden Quelle zu einem FAKT in der eigenen Runde wird. Das sorgt dafür, daß die Investition in Zeit und Geld diese „Fakten“ aus den Verlagsprodukten anzulesen nicht vergebens war.

Daher auch der WIDERSTAND mancher Spieler gegen „mutwillige Änderungen am Kanon“ durch Spielleiter!

Wer DSA in Aventurien nach den aktuellen Regeln und Publikationen spielen möchte und dabei ZUVIEL UNKONTROLLIERTE „Fakten“ angehäuft hat, der übt DRUCK auf den Spielleiter aus, diese Investition an Zeit und Geld in diese „Fakten“ zu einer „lohnenden“ zu machen. So, wie der Spieler über Romane und Quellenbände Aventurien zu „kennen“ meint, so ERWARTET er vom SL DESSEN Aventurien auch gefälligst dargeboten zu bekommen!

Und das führt zu dem Druck der SPIELER auf die Spielleiter, von dem ich oben schrieb.

Das Kanonische kann nämlich einem Spielleiter mit auch nur ein wenig Rückgrat und einem Hauch eigener Ideen herzlich EGAL sein.

Aber wenn gleich mehrere Spieler in der Spielgruppe zu nörgeln anfangen, daß man doch schließlich in Aventurien spiele und man da dies nicht und das nicht machen könne und daß das und das eh nicht ginge, weil es in Band XYZ ganz anders geschildert wurde, TÖTET das die Individualität der Gruppe und damit einen KERNWERT der SPIELFREIHEIT der gesamten Gruppe im Keime!

Wer lauter „Zahlen“ gelernt hat, der ist mit „Malen nach Zahlen“ zufrieden und der will nach einer Weile auch nicht mehr anders als nach Zahlen zu malen. – Er ist schöpferisch VERKRÜPPELT!

Und das passierte in Deutschland durch die hierzulande von mir als Die Deutsche Krankheit im Rollenspiel summarisch bezeichneten Strömungen der „Roman-ifizierung “ von Abenteuer-Publikationen (zum LESEN aber nicht zum Spielen geeignet – Abenteuer-Entwickler sieht sich als „Autor“), der Überspezifikation von Spielwelten (wie viele Cthulhu-Regionenbände über das Oberallgäu braucht  man wirklich?), der Splat-Book-Schwemme (für jeden Scheiß-Archetypen und seinen Bruder ein eigenes Buch!) , usw.

Ihr wollt FAKTEN? Ihr könnt FAKTEN doch garnicht ertragen!

Das ist des Übels Kern. – Wenn es den Spielern und den Spielleitern KLAR wäre, wie gewichtig die Unterschiede zwischen „Fakten“ ohne Wirkungsmacht im bisherigen Spiel  und FAKTEN mit echter, zementierter Wirkung sind, dann könnte m.E. bewußter mit solchen Verlagsproduktreihen umgegangen werden, die zu „komatösen Spielgruppen durch Kanon-Treue“ führen.

Daher dieser Artikel hier, in welchem ich meine Sicht auf die Handhabung und Bedeutung von Fakten im Rollenspiel dargelegt habe.

Ich habe versucht meine Erklärung für die heutige Situation zu vermitteln. Ich sehe im unkontrollierten Zugang zu „Fakten“-Sammlungen den Grund für die „Kanon-Treue“-Problematik. Ich sehe im nicht von den Grundtugenden geprägten Umgang mit externen „Fakten“-Quellen (insbesondere von „externen Autoritäten“ wie Verlagen) den Grund für den Fakten-Dschungel, der die Spieler in klebriger kanonischer Faktendichte formlich zu ersticken droht.

All dies ist behebbar, wenn man mit Rückgrat und Bewußtheit mit Rollenspielprodukten umgeht. Kanon-Treue ist KEINE wahrhaftige Tugend für das Rollenspiel, sondern deren Gegenteil! Sie führt ins Verderben!

Ich habe hier viel von Tugenden und moralischer Verpflichtung in der Spielpraxis geschrieben. Eigentlich hatte ich geplant dieses Thema mit einem anderen Artikel zu starten, in welchem es direkt um SPIELMORAL geht. Aber nun kam aus aktuellem Anlaß dieser Artikel zu Fakten zuvor. Daher werde ich den Spielmoral-Artikel, sobald es meine Zeit erlaubt, fertigstellen und nachreichen.

Über Kommentare hier oder Beiträge im Diskussions-Thread im Forum würde ich mich wieder sehr freuen.